Cäcilia – die Mutter meines Vaters
Sie war eine harte Frau. Die härteste, hieß es in der Familie. Ich sah sie nie eine Träne vergießen. Und selbst in ihrem Tod schien sie mir hart. Hart und abgemagert. Wenige Minuten vor ihrem Tod stand ich noch an ihrem Bett und streichelte ihre trockene Haut.
Als sie noch lebte, da soll sie geliebt haben – wie jeder andere Mensch auch. Ihre Liebe galt ihren Kindern, Haus und Hof und natürlich ihrem Mann.
Karl – der Vater meines Vaters
Ich lernte ihn nie kennen. Er war schon tot, als ich geboren wurde. Er soll ein herrischer Mann gewesen sein und für seine Familie nur die nötigsten Gefühle gehegt haben. Er liebte »das Recht« – meinen Vater soll er »eigenhändig« verklagt haben, als dieser studieren wollte anstatt den schlecht laufenden Holzhandel seines Vaters zu übernehmen.
Und dennoch hatte Karl geliebt: Er hatte den Führer geliebt. Doch er war um seine Liebe betrogen worden. Die Zukunft, die Hitler ihm versprochen hatte – die er somit auch seiner anspruchsvollen Frau und seiner Familie versprochen hatte – erfüllte sich nicht.
Also war Karl nach 1945 plötzlich kein Nazi mehr. Er war nur noch ein kleiner Krämer, der es schwer und sieben Mäuler zu stopfen hatte.
Eleonore Philippine – die Mutter meiner Mutter
Sie soll die letzten zwei Jahre des Krieges in einer Kammer hinter der Backstube ihres Mannes gelebt haben. Er hielt sie versteckt, weil sie eine sogenannte »Halbjüdin« war. Für die Behörden war sie schon lange »ausgereist«.
Sie liebte ihre Kinder, sie liebte ihren Mann. Und Sie meinte mal zu mir, sie habe auch Deutschland geliebt. Das Deutschland vor dem »Teufel mit den stechenden Augen« und das Deutschland danach. Sie brachte sieben Kinder zur Welt, umsorgte sie mit all ihrer Liebe und musste zwei beerdigen, noch bevor sie in unserer Wohnung starb. Ich fand sie eines morgens lächelnd auf dem Boden liegen – sie hatte einen Keks in der Hand.
Karl-Friedrich – der Vater meiner Mutter
Er war Bäcker. Er liebte das Backen, die Kunden mochten ihn, man kam gern auf einen Schwatz vorbei. In Erlangen war er als einer der ersten in die NSDAP eingetreten – trotz seiner halbjüdischen Frau.
Sie liebte er noch mehr als das Backen. Er liebte sie so stark, dass er später alle Gefahren auf sich nahm, um sie vor den Nazis zu retten, zu denen er einmal gehört hatte.
Ihn kannte ich nur als den kranken, bettlägrigen Mann auf dem braunen Sofa – gezeichnet von unzähligen Schlaganfällen. Er roch immer leicht nach Urin.
Wenn ich neben ihm saß, streichelte er meine Hand. Es war unheimlich und schön zugleich. Ich sah zu, wie meine Mutter und meine Großmutter ihn pflegten.
Werner – mein Vater
Er war klug. Er war sportlich. Er hatte »einen eigenen Kopf«, hieß es. Er liebte die Anerkennung. Und er liebte die Frauen. Von denen er viele hatte. Auch neben seiner Ehefrau, die ihm zwei Kinder schenkte.
Er hatte sich hochgearbeitet. Gegen den Willen seines Vaters, aber mit dem Einverständnis seiner Mutter, hatte er studiert, dann eine eigene Firma gegründet.
Er liebte den Erfolg. Er liebte Statussymbole. Und er hasste Widerworte. Vor allem Widerworte, die seine Frau ihm gab. Deshalb schlug er sie manchmal. Hart und feste. Dann war seine Welt wieder in Ordnung.
Er liebte uns Kinder. Er brachte von seinen sogenannten Geschäftsreisen meiner Schwester Stofftiere mit und mir Bücher. Er starb als ich 12 war – bei einem Lawinenunglück in St. Anton am Arlberg. Am Tag seiner Abreise hatte er mir wie in einem Film gesagt: »Pass schön auf, du bist jetzt der Mann im Haus«.
Ursula Gunhilde Rutgard – meine Mutter
Sie war Alkoholikern – inzwischen seit vielen Jahren trocken. Damals hatte sie einen guten Grund zu trinken: einen Mann, der sie dauernd betrog und bisweilen schlug. Und dennoch liebte sie ihn über alles.
Sie liebte ihre Kinder – meine Schwester und mich. Sie liebte uns in den wachen Stunden ihres Daseins sogar noch stärker, als im halbbesoffenen Dämmerzustand, dessen Tristesse für sie zur Normalität wurde.
Eines Tages fuhr sie betrunken mit meiner Schwester auf dem Mofa los. Meine Schwester brach sich bei dem folgenden Unfall das Bein, meine Mutter die Nase. Mir brach das Herz, als meine Mutter uns deshalb verlassen musste. Ihr brach das Herz als ihr ehemaliger Mann wenige Jahre später starb.
Dieses Jahr verlor sie – nur Wochen nach ihrer eigenen schweren Herzoperation – ihren langjährigen Lebenspartner. Ich liebe sie.
Oliver – mein Ich (soweit ich es kenne)
Ich war ein Sohn, der seinen Vater vergötterte und gleichzeitig hasste.
Ich war ein Sohn, der sich nach dem Tod seines Vaters um seine alkoholkranke Mutter kümmerte.
Ich musste für meine Mutter und meine Schwester einen Familienvater spielen, der ich mit 12 nicht sein konnte, mit 15 nicht und auch nicht mit zwanzig.
Ich denke, mein Glück begann, als ich endlich meine große Liebe kennenlernte. Kennenlernen durfte.
Ariane – meine Frau
Wir lernten uns 1999 im Prater im Prenzlauer Berg kennen. Sie arbeitete dort neben dem Studium als Kellnerin. Ich fing dort auch an, als Kellner und dann Tresenkraft. Wir verliebten uns schnell ineinander – ohne es zuzugeben. Wir mussten uns noch sechs Jahre gedulden. Immer wieder befand sich wenigstens einer von uns in einer anderen Beziehung.
Unsere Liebe gestanden wir uns auf dem Dach der Backfabrik in Mitte. Den Heiratsantrag machte sie mir auf Pille im Birkenwäldchen im Mauerpark. Sie hat von Anfang mein Leben in ein Licht getaucht, das weich und warm auch die dunkelsten Ecken meiner Seele ausleuchtet. Sie hat mit mir die schwersten Tage meiner Depression durchstanden.
Mit ihr wollte ich Kinder haben. Immer in der Angst, dass ich doch niemandem jemals so lieben könnte wie sie.
Wir sitzen am Frühstückstisch. Die Kinder haben uns in Ruhe gelassen. Wir durften uns ungestört unterhalten. Ariane hat mir zum wiederholten Male gesagt, ich solle endlich mein Smartphone weglegen, die Leute auf Twitter kämen auch ohne meine Ergüsse durchs Leben.
Ich teste ein Objektiv an meiner Kamera und fotografiere einfach alles in der Küche: die Club-Mate, die Winkekatze, den Ofen, das Brot, das Studentenfutter, den Rücken meiner Kinder und – natürlich sie. Eigentlich fotografiere ich sie dauernd.
Sie schenkt mir ihren »Ich warne dich«-Blick .
Ich liebe sie.
Leo und Felix – meine Söhne
Sie sind Fleisch von meinem Fleisch. Und Fleisch von Arianes Fleisch. Sie tragen etwas von ihrem herrischen Hitler-Uropa in sich. Sie tragen etwas von ihrer gefühlvollen und aufopferungsbereiten Oma in sich. Sie tragen etwas von der Musikalität meiner Frau in sich. Sie wollen alles wissen, wie ich es auch immer wollte.
Ich habe wahrscheinlich noch nie etwas so geliebt, wie meine Kinder.
Ich bin mit Felix allein zu Hause. Es ist still in der Wohnung – dann und wann höre ich ein PSCHKCHHHSCHH aus dem Wohnzimmer. Ich stehe einige Minuten in der Tür und beobachte meinen Sohn, wie er gedankenverloren mit einem Spielzeugauto spielt, das er eigentlich schon seit Wochen nicht mehr interessant findet.
Ich liebe ihn.
Ich wache auf. Es ist Samstag und kurz vor 6 Uhr. Im Kinderzimmer höre ich Murmeln. Ich bin genervt – ich weiß, was los ist: Der Fernseher ist an. Schwere Graben- und Stellungskämpfe gibt es in unserer Familie um die Nutzung von Fernsehen und Videogames. Die Fronten verlaufen wechselnd.
Ich stehe unwirsch auf, stampfe ins Zimmer und will Leo anschnauzen. Er hat mich nicht gehört. Ich sehe den flackernden Lichtschein des Fernsehers auf seinem Gesicht. Seine gleichzeitig entspannten und angespannten Gesichtszüge.
Ich liebe ihn.
Familie – wir
Es ist Sonntag Nachmittag. Das Wetter ist eher grau. Unterm Fenster versuchen die Menschen ihrem Sonntagsspaziergang trotzdem Sinn zu geben – sie werden es nicht schaffen. Wir wollten in der Wohnung bleiben. Wir haben gegessen, es gab keine allzu großen Gefechte am Mittagstisch, die Kinder dürfen erst am Abend fernsehen.
Es ist still und jeder macht seins: Felix will das Skelett sehen, Leo zeichnet und Ariane sortiert ihre Wollgarne.
Ich bin glücklich.
Ich liebe.
ja.
<3³
<3
Lieber Oliver,
Deine Texte über Deine Familie haben mich zu Tränen gerührt. Auch ich hätte viel zu schreiben über dieses Menschen, deren Geschichten, deren Tragödien, Liebe und Hass und wie einerseits so viel kaputt geht und sich dann doch wieder vieles fügt. Es ist gut, dass es Menschen wie Dich gibt, die solche Texte schreiben. Danke dafür! Mich haben auch die Bücher von Sabine Bode, „Die vergessene Generation“ und „Kriegsenkel“, sehr beeindruckt und meine Großeltern und Eltern in wieder einem anderen Blickwinkel sehen lassen.
Anuschka
@Anuschkin
Hi Olli, ich habe dich nicht vergessen, und ich habe lange nach dir gesucht. 🙂 dein Alex
He, Alex! Ich dachte öfter mal an dich. Ich meld mich per Mail!
Das ist ein toller Text mit viel Gefühl. Danke dafür.
Vielen Dank!
Während im Fernseher das Bachmann-Lesen stattfand und ich mich wieder einmal wunderte, erfreute ich mich wieder mal an den Tweets von Raubtier den Atem. Plötzlich wurde ich neugierig. Wer steckt hinter den Tweets? Die Geschichte deiner Familie hat mich gerührt. Danke, dass du mich vor der Literatur-Langeweile in Klagenfurt gerettet hast. (Ich weiß nicht, wo du wohnst und woher du kommst, aber die Parallelen zu meinen Großeltern sind unfassbar. Wie uns die Geschichte doch alle in einen Topf wirft, in dem wir dann schwimmen müssen… Meine Großeltern waren aus Kärnten, Wien, Salzburg und Vorarlberg)
Vielen Dank für dieses schöne Lob!