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Vom Lesen

Reclam

Mein Vater hat nie viel gelesen. Im Regal standen Bücher aus seinem Studium der Volkswirtschaftslehre. Und selbst diese waren in den Siebzigern schon veraltet. Links unten in der Ecke fand man eine Batterie Reclam-Heftchen. Egmont, Der zerbrochene Krug, Faust, Der grüne Heinrich. Ich mochte das Format. Klein und handlich und noch nicht in dem heutigen Marken-Gelb.

Meine Mutter hingegen las immer. Alles, was ihr in die Hände kam. Zweimal die Woche gingen wir in die Leihbücherei. Ich liebte den Geruch der Bücher — manchmal schon leicht muffig und nach Keller. Nur pro forma drückte ich mich die ersten zehn Minuten in der Kinderbuchabteilung herum, um dann ganz schnell in die Science-Fiction und Horror-Abteilung zu wechseln. Edgar Allen Poe, Isaac Asimov, Stanislaw Lem, Stephen King. Ich durfte die wenigsten dieser Bücher ausleihen, meist nur, wenn meine Mutter einen guten Tag hatte, oder schon zu besoffen war, um einen Überblick über ihre eigene Auswahl zu haben. In der Leibücherei verbrachten meine Mutter und ich viele Stunden. Meine Mutter und ich lasen immer schon am Regal. Sie hatte eine Thermoskanne voll Tee mit klarem Schnaps dabei, ich trank aus der Sunkist-Pyramide. Am liebsten Kirsch. Ein echtes Problem war, dass ich immer schon scheißen musste, wenn wir in die Bibliothek kamen. Eine Mischung aus Vorfreude und Gier setzte meine Verdauung in Bewegung. Ich griff mir dann immer das erstbeste Buch und schlich mich am Tresen der Büchereiangestellten vorbei und nahm es mit aufs Klo.

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