Mein Vater hatte zwei Firmen. Die Altpapier Erfassungs GmbH — im Akronymwahn der damaligen Zeit unter A.P.E. im Telefonbuch zu finden — und eine Spedition, die das Altpapier zur Papierfabrik Haindl brachte. Ich wuchs also zwischen Altpapierbergen auf. Und so war meine Wahrnehmung der Welt schon in frühester Kindheit geprägt durch Liegengelassenes, Weggeworfenes und den Nachrichten von gestern. Zeitschriften und Zeitungen türmten sich meterhoch auf und warteten darauf, wieder zu Zeitungen und Zeitschriften zu werden. Und dies zu einer Zeit im Westen, als Altpapier noch etwas wert war.
Täglich kamen Menschen und brachten ihre Papierbündel zum Wiegen. Ich weiß nicht mehr, wie viel es dafür gab, aber sicher genug, um mit Altpapierbündeln eine Autofahrt ins Industrieviertel der Stadt auf sich zu nehmen. Und so wechselten sich an der Papierwaage geschäftstüchtige Jugendliche mit ihren Bonanzarädern mit professionellen Papiersammlern ab, die mit Kleinbussen vollgestopft bis oben hin anfuhren. Dazwischen kamen alte Frauen mit einer Tasche auf Rädern, die mein Vater „Hackenporsche“ nannte. Ihnen war die Qual des Weges anzusehen und auch die Freude, wenn sie ihre paar Pfennige ausgehändigt bekamen. Ich hatte mehrmals versucht, meinen Vater davon zu überzeugen, dass ich die Mengen Papier, die ich am Abend vorher in einer Ecke geschichtet hatte, unter körperlicher Anstrengung selbst gesammelt hätte. Mein Lohn blieb mir versagt. Ohne die Papierbündel überhaupt zu wiegen, kamen sie wieder auf die Haufen.
Doch wo es kein Geld gab, gab es andere Dinge, die genauso wertvoll für mich waren. Mit Freunden waren wir stundenlang auf der Suche nach den verborgenen Schätzen in der Flut von Druckmitteln. Comics waren für uns Kinder am wertvollsten. Donald Duck Hefte waren gern gesehen, doch noch lieber waren uns Superhelden. Spiderman lag bei mir schon damals ganz weit vorne, gefolgt vom Hulk. Mit Superman und noch schlimmer, seinem Streberbruder Batman hingegen konnte ich wenig anfangen — früh war mir klar, dass absolute Unbesiegbarkeit und Cleverness immer einen faden Beigeschmack hatte.
Tagsüber hatten wir Kinder auf dem Gelände eigentlich nichts zu suchen. Große Schaufelbagger wälzten das Recyclingmaterial um und schafften es auf ein Fließband zur Sortierung. Und genau an der Abrisskante der Baggerschaufeln fanden wir Kinder natürlich die größten Schätze. In Hassliebe verbunden waren wir den Angestellten meines Vaters, dunklen Männer aus dem Süden – Spanier, Griechen und Italiener suchten ebenso die Papierberge ab wie wir. Lange war es uns ein Rätsel, was sie wohl mit Comics wollten, bis wir eines Tages mit offenen Mündern die Tasche eines immer schwitzenden und leicht säuerlich riechenden Arbeiters durchsuchten, als der auf dem Klo war. Was wir dort zu Gesicht bekamen, waren mitnichten Superhelden oder Enten, die reden konnten. Nackte Frauen blitzten uns entgegen. In der soften Variante in Form von Zeitschriften, die Schlüsseloch und Praline hießen. In der harten Variante in Form von Pornos — sie waren also der heilige Gral der Altpapierverwertung. Das beste daran war, dass die Arbeiter meines Vaters bereit waren, für diese Heftchen zu zahlen. In harter Münze und für uns Kinder in immenser Höhe. Einen ganzen Sommer lang waren wir auf der Jagd nach diesen Heften und füllten unsere „Schweinekasse“ damit auf. Zu dieser Zeit konnten wir im Freibad mit den verwöhnten Jungs aus den reichen Stadtteilen gut mithalten. Unsere Panini Fußballbildersammlung war dicker als die der anderen. Und für eine Cola mit Pommes für die Mädchen — die wir noch wenige Minuten vorher unter Wasser getaucht hatten — war auch noch Geld da. Zum Abendessen war ich immer satt. Ich schmierte mir pro forma ein Leberwurstbrot, belegte es mit Gurkenscheiben und ließ die Hälfte stehen.
Es war die schönste Zeit meiner Kindheit. Bis die Großen kamen.