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Alkohol und Gewalt

 

Römisch Eins

Es war meist gegen frühen Nachmittag, dass sich meine Mutter recht komisch verhielt. So komisch, dass selbst ein Sechsjähriger das erkennen konnte. Ich hätte nicht sagen können, dass sie traurig war. Obgleich sie oft am Couchtisch saß und weinte. Mir war der genaue Zusammenhang nicht klar, aber das stets vollgefüllte Glas in ihrer Hand – sie setzte es nie ab, außer zum Nachfüllen – hatte etwas mit ihrer Stimmung zu tun.

Mit diesen Stimmungen vermochte ich umzugehen. Ich musste nur dafür sorgen, dass meine Mutter nicht für uns kochte. Oft genug hatte sie sich selbst und unser Essen verbrannt. Schwerer war, mit dem Verhalten meines Vaters zum Zustand meiner Mutter umzugehen. Wenn es heißt, der Mann habe die Hand gegen seine Frau erhoben, dann hat mein Vater sie viel zu oft auch fallen lassen. Mit Wucht und Kraft. Den körperlichen Auseinandersetzungen gingen stundenlange Diskussionen voraus, die wortreich und mit viel Emphase von meiner Mutter bestritten wurden und einsilbig von meinem Vater: „Du Säuferin, denk an die Kinder.“

Ich erinnere mich an Schreien, Weinen, Stottern, Schluchzen. Meine Schwester hält sich an den Beinen meiner Mutter fest. Ich stehe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, der zum Schlag ausholt. Der Schlag wird treffen. Meine Mutter wird fallen und meine Schwester mitreißen. Ich presse meine Zähne so fest aufeinander, dass ich noch nachts im Bett meinen Kiefer spüre werde. Ich fühle Angst. Mitleid für meine Mutter. Ich kenne den Mann nicht, der da zuschlägt. Ich kenne die Frau nicht, die ihn reizt. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb und völlig unangemessenem Streben nach Harmonie werfe ich mich dazwischen. Beulen und blaue Flecken bleiben dabei nicht aus.

Ich wurde selten geschlagen. Aber wenn, kam der Gürtel als Mittel der Wahl zum Einsatz, oder ein alter Teppichklopfer, oder der Rücken der Hand. So blieben keine Wunden. Wenigstens keine, die man auf den ersten Blick sehen konnte.

 

Römisch Zwei

Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte. Nächte, in denen ich meine Hände zum Gebet faltete. Meine Mutter hatte sich besoffen auf die Couch fallen lassen. Mein Vater war zu einer seiner vielen Verabredungen gefahren. Er hatte meine Mutter geschlagen oder auch nicht. Für sie blieb es gleich.

Ich stehe neben meiner Mutter und streichle ihr übers Haar. Ich beneide sie um ihren schweren und traumlosen Schlaf. Meine Schwester schläft auch. Das Glas meiner Mutter ist auf den Boden gefallen. Das Wenige, was noch drin war, hat sich zu den anderen Flecken vor dem Sofa gesellt. Ich streife durch die Wohnung. Öffne die Schränke, finde hie und da eine leere Kornflasche oder einen Weinbrand.

Den teuren Cognac hat mein Vater unten im Büro in seinem Schreibtisch weggeschlossen. Er trinkt ihn zu seinen Stinkern. Kleine schwarze Zigarillos, die selbst meinen Vater lächerlich aussehen lassen, wenn er mit manierierter Handbewegung seine Züge macht und den goldenen Cognac dabei schwenkt. Ich habe schon von allen Alkoholika probiert. Alles schmeckt zum Kotzen. In Wahrheit hatte ich davon schon gekotzt. Ich bin in meiner Kotze eingeschlafen. Das Bett hatte ich am nächsten Tag selbst sauber gemacht.

Auf meinen Streifzügen durch die Wohnung finde ich die Penthouse-Sammlung meines Vaters, den Playboy scheint er nicht zu mögen. Mich interessieren besonders die amerikanischen Ausgaben. Die Fotos sind nicht bearbeitet und wenn die Frauen dort ihre Beine öffnen, kann ich alles sehen. Auch wenn ich es noch nicht verstehe.

Ich räume den Esstisch auf. Nicht, weil es mir Spaß macht, oder ich gezwungen wäre. Ich will nur vermeiden, dass mein Vater meiner Mutter Schlamperei vorwirft. Auf eine muffige, modern-spießige Art bleibt es bei uns zu Hause ordentlich.

 

Römisch Drei

Meine Mutter versucht aus dem Haus zu rennen. Sie schafft die Treppe zur Eingangstür hinunter nur zur Hälfte. Mein Vater packt sie an den Haaren. Meine Mutter rennt weiter, er hält nur einen Augenblick später ein Haarbüschel in der rechten Hand. Ich sehe Blutstropfen an den Haarwurzeln. In einem Anfall auswegslosen Mutes dreht sich meine Mutter um und zieht mit ihren Fingernägeln durch das Gesicht meines Vaters. Ihre Fingernägel sind tiefrot. Am Tag davor hatte sie sich die Finger- und Fußnägel lackiert. Meine Schwester und ich knieten im Bad zu ihren Füßen und verfolgten die Prozedur aufmerksam. Vier Striemen ziehen sich knapp unter dem Auge meines Vaters bis zum Kinn und verfärben sich dunkelrot, als wollten sie dieselbe Farbe annehmen wie Mutters Fingernägel.

Plötzlich ist es still. Mir ist, als hätte jemand einfach den Ton abgedreht. Ich mache das gerne beim Fernsehen. Ich sehe den Schauspielern zu, wie sie ihre Gesichter verziehen und wild gestikulieren. Den Text spreche ich für sie. Es ist mein Text und für mich ergibt er Sinn.

Mein Vater greift sich an die Wange. Und ballt die andere Hand zur Faust. Meine Mutter weiß, was kommen wird. Ich auch. Aber sie dreht sich nicht weg. Es wirkt, als würde sie ihren Kopf dem Schlag entgegen recken. Der Ton ist plötzlich wieder an und ich höre ein Geräusch – ein nasses Handtuch, das auf den Boden fällt. Meine Mutter stürzt den Rest der Treppe hinunter und bleibt vor unserer Eingangstür liegen. Die Freiheit ist so nah. Sie müsste sich nur aufrappeln und die Tür öffnen. Sie rührt sich nicht. Mein Vater bleibt auf dem Treppenabsatz stehen und ich hinter ihm. Es ist wieder still. Ich höre das schwere Atmen meines Vaters. Er hat beide Hände gesenkt, auf seiner Wange bildet sich ein Blutstropfen. Meine Mutter schüttelt es. Sie weint, aber ich kann nichts hören. Ich halte die Hände vors Gesicht und merke, dass ich schon länger weine.

Unsere Tage waren nicht immer schön. Und auch nicht die Abende oder Nächte.

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