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Ein Sommer ohne Liebe

Es kam die Zeit, zu der uns langweilig wurde. Wir schienen von der endlosen und drückenden Hitze fast ebenso gelähmt wie die Erwachsenen, die uns nur noch mit mattem Winken wegscheuchten und meinten, wir sollten erst wiederkommen, wenn abends der Grill heiß sei.

Aber was tun? Die Baggerseen und Freibäder waren inzwischen abgegrast, alle Mädchen hatten wir schon getaucht. Das Zehn-Pfennig-Eis hing uns zum Halse raus und mit unseren Fanta-JoJos wollten wir nicht mehr üben – Weltmeister würden wir so oder so nicht mehr werden. Wichtig war nur, ob man ein blaues oder oranges JoJo hatte. Denn das blaue, teurere adelte einen, das orange war für die Jungs aus den armen Stadtteilen. Ich hatte erst ein oranges, später klaute ich mir einfach ein blaues.

Ich war schwer verliebt in diesem Sommer. Wir alle waren damals immerzu verliebt, aber ich besonders. Ihr Name war Sabine Eisenhart. Mein Therapeut, von dem ich zu dieser Zeit natürlich noch nichts wusste, würde mich ungefähr 30 Jahre später auf den Freudschen Namenswitz aufmerksam machen. Ich musste nicht lachen.

Ich war verliebt, zugegebenermaßen unglücklich, aber wir waren damals immerzu unglücklich verliebt. Wir erlitten dabei so viel Schmerz, wie pubertären zwölf- bis vierzehnjährigen nur zuzumuten war. Sex? Ja, Sex war kein Geheimnis mehr. Wir tauschten untereinander die Pornohefte unserer Väter – über Playboy und Penthouse konnten wir nur noch milde lächeln. Am heftigsten fanden wir das eine Exemplar „Happy Weekend“, das wir einem Fernfahrer auf der Freibadtoilette gemopst hatten. Es macht so lang die Runde, bis es fast völlig zerfleddert auseinanderfiel.

Aber natürlich hatte noch keiner von uns wirklich Sex gehabt. Tägliches, mehrmaliges wichsen am Tag ja. Damit ließ sich auf die ein oder andere Art auch angeben. Aber Sex, mit einem echten Mädchen? Nein. Immerhin hatten wir keine Scheu, uns unsere Angst vor dem ersten Mal zu gestehen. Wir fühlten uns dadurch verbunden. Bis auf Markus, genannt Max. Er schwor Stein und Bein, es schon gemacht zu haben. Im Zeltlager, mit einer sechzehnjährigen. Einer richtigen Frau also. Sie hätte ihn ganz schön rangenommen. Aber dann hätte auch er es ihr richtig besorgt.

Wir alle glaubten ihm eigentlich kein Wort, aber genossen dennoch jeden weiteren Höhepunkt seiner Erzählung. Seine Story wurde jedes Mal besser und geschliffener. Max lernte, dass es auf die kleinen Details ankam: wie sich die Schlafsäcke verhakten, ihr Mund beim Küssen erst nach Leberwurstbrot schmeckte, das sie vorher miteinander geteilt hatten, sie am Morgen darauf ihr Höschen nicht mehr finden konnte und er es erst Zuhause in seinem Schlafsack wiederfand. Er würde sie heute noch an dem Höschen riechen können, uns würde er es aber nicht zeigen. Das verbot der Anstand. Aber uns war das egal. Wir wussten, dass er log. Und wir wollten belogen werden.

Was also Sex betraf, war Max eine Institution – wenigstens diesen einen Sommer lang. Aber von Liebe, wahrer Liebe verstand er nichts. Das wusste ich. An Sex mit Sabine Eisenhart war gar nicht zu denken. Nein, sie schien einfach unberührbar, der Liebe vielleicht gar nicht fähig. Sie nahm mich nicht zur Kenntnis. In der Schule nicht, ich saß drei Reihen hinter ihr, eine in Physik. Und am Baggersee auch nicht, wir alle lagen hinter ihrer Mädchenclique und röhrten wie junge, brünftige Hirsche. Sabine Eisenhart schien allgemein ein Sonderfall zu sein, meine Freunde nannten sie frigide. Keiner wusste, was das genau heißen sollte, aber es erklärte wohl ihre eiserne Disziplin und Zurückhaltung.

Ich hatte in diesem Sommer keinen Sex mehr. Nicht mit Sabine Eisenhart oder einem anderen Mädchen. Als ich im Jahr darauf zum Zuge kam, wünschte ich mir aber, sie wäre es gewesen. Und nicht das Mädchen mit dem eigentümlichen Körpergeruch.

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